„Wenn wir Selbstorganisation zulassen, entsteht doch nur Chaos!“ Dieser Satz fällt in Unternehmen nicht selten. Vielleicht hast auch du diesen Gedanken schon einmal gehabt. Denn tatsächlich wirken Teams ohne klare Führung manchmal orientierungslos. Alle ziehen in unterschiedliche Richtungen, keiner weiß mehr so recht, was das eigentliche Ziel war. Chaos? Nicht selten. Und doch liegt in der Selbstorganisation ein enormes Potenzial, wenn sie richtig verstanden und geführt wird.

In diesem Artikel erfährst du, wie du dein Team auf dem Weg zur Selbstorganisation begleitest – Schritt für Schritt. Dabei kombinieren wir agile Prinzipien mit systemtheoretischen Einsichten. Denn Selbstorganisation bedeutet nicht, alles laufen zu lassen, sondern die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Teams ihre Kraft gezielt entfalten können.

Was ist Selbstorganisation und warum ist sie wichtig?

Selbstorganisation ist nicht das Gegenteil von Führung, sondern eine Form davon. In der Systemtheorie bezeichnet Selbstorganisation die Fähigkeit eines Systems, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, Muster zu bilden und sich dynamisch weiterzuentwickeln – eben ohne zentrale Steuerung.

In der Praxis bedeutet das: Ein Team findet selbst Wege, um Probleme zu lösen, Prioritäten zu setzen und Ziele zu erreichen. Es braucht nicht für jede Entscheidung ein „Go von oben“. Das Team handelt aus sich heraus, auf Basis gemeinsamer Prinzipien.

Wichtig ist hierbei: Selbstorganisation heißt nicht, dass „jeder machen kann, was er will“. Es geht vielmehr darum, Verantwortung dorthin zu bringen, wo die Kompetenz ist und den Beteiligten zu vertrauen, dass sie diese Verantwortung tragen können.

Warum Selbstorganisation heute so wichtig ist

Unsere Arbeitswelt verändert sich rasant. Märkte, Technologien, Kundenbedürfnisse, alles ist in Bewegung. In solch dynamischen Umgebungen stoßen klassische hierarchische Modelle schnell an ihre Grenzen. Entscheidungen von oben brauchen Zeit, und oft fehlt den Entscheider:innen die Nähe zum Geschehen.

Agile Methoden wie Scrum oder Kanban setzen daher auf dezentrale Verantwortung und iterative Lernprozesse. Teams werden befähigt, eigenständig zu arbeiten, zu reflektieren und sich laufend zu verbessern.

Die Systemtheorie liefert dafür das passende Fundament: Organisationen sind komplexe soziale Systeme, die sich nicht linear steuern lassen, sondern durch gezielte Impulse, durch Klarheit, Feedback und sinnvolle Strukturen eigene Ordnungsmuster herausbilden.

Führung im Spannungsfeld: Freiheit und Rahmen

Selbstorganisation entsteht im Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung. Beide Pole sind wichtig und müssen immer wieder neu austariert werden. Ohne Rahmen keine Orientierung. Ohne Freiheit kein Engagement.

Systemtheoretisch gesprochen: Systeme sind autopoietisch: sie erzeugen und verändern sich selbst. Als Führungskraft kannst du nicht steuern im klassischen Sinne. Aber du kannst Rahmenbedingungen gestalten, Irritationen setzen und Beobachtungsräume schaffen.

In der Agilität spricht man hier von „Enabling Constraints“, das sind fördernde Beschränkungen, die Kreativität und Eigenverantwortung möglich machen.

Das Paradoxon: Führung zur Selbstorganisation

Das klingt widersprüchlich: Führung zur Selbstorganisation. Aber genau das ist der Schlüssel. Denn Selbstorganisation braucht klare Führung, um sich entwickeln zu können.

Stell dir ein Spielfeld vor: Es gibt Regeln, Linien, ein Ziel und innerhalb dieses Rahmens spielen die Teams frei, kreativ und engagiert. Ohne Regeln wäre es kein Spiel, mit zu vielen Regeln wird es langweilig und blockiert. Gute Führung gestaltet das Spielfeld, nicht den Spielzug.

Was heißt das konkret? Als Führungskraft gibst du Richtung und Rahmen vor, du schaffst Strukturen und Klarheit, förderst Reflexion und Lernen, begleitest die Entwicklung des Teams bewusst.

Selbstorganisation ist Teamführung auf Augenhöhe

Selbstorganisation heißt nicht, dass Führung verschwindet, sie wird gemeinsamer, dialogischer und situativer. In agilen Organisationen sprechen wir von Shared Leadership: Führung als geteilte Verantwortung im Team.

Das bedeutet: Du wirst mehr zum Coach und zur Ermöglicher:in. Du gibst Impulse statt Anweisungen. Du begleitest Prozesse, statt Inhalte zu kontrollieren.

Das braucht Mut, Vertrauen und auch eine ganz eigene Kompetenzen und Entwicklung der Führungskraft selbst.

 

5  Schritte auf dem Weg zur Selbstorganisation

Hier folgen nun fünf zentrale Ansätze, mit denen du dein Team systematisch in die Selbstorganisation führen kannst. Sie bilden Rahmen und schaffen Kontext:

1.  Ziele und Ergebnisse gemeinsam im Blick behalten

Selbstorganisation ist kein Selbstzweck, sie dient einem Ziel. Teams brauchen ein gemeinsames Verständnis von Sinn, Zweck und Prioritäten. Deshalb ist es wichtig, regelmäßig innezuhalten und zu fragen:

Was wollen wir als Team erreichen?

Was ist unser Beitrag zum größeren Ganzen?

Wie messen wir Fortschritt?

Nimm dir regelmäßig Zeit für Review-Meetings, Zielabstimmungen und OKR-Zyklen (Objectives & Key Results). Damit stellst du sicher, dass das Team nicht in operativer Hektik versinkt, sondern sich immer wieder strategisch ausrichtet.

2. Handlungsspielräume bewusst gestalten

Selbstorganisation braucht Freiraum, aber nicht grenzenlose Freiheit. Gerade in der Anfangsphase kann zu viel Offenheit überfordern. Es ist hilfreich, wenn du als Führungskraft Handlungsspielräume klar definierst und sie je nach Reifegrad des Teams immer wieder anpasst.

Frage dich: Welche Entscheidungen kann das Team selbst treffen? Wo braucht es noch Orientierung oder Abstimmung? Wie transparent sind diese Spielräume kommuniziert?

Ein agiles Tool: Nutze das Modell des Delegation Poker  oder die 7 Stufen der Delegation (nach Jurgen Appelo), um gemeinsam mit dem Team auszuhandeln, wer was entscheiden darf.

3. Rollen und Verantwortung klären

In selbstorganisierten Teams verschwinden Hierarchien und es entstehen neue Formen der Klarheit. Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten müssen explizit benannt werden, damit alle wissen, woran sie sind.

Agile Frameworks wie Scrum arbeiten deshalb mit klar definierten Rollen (z. B. Product Owner, Scrum Master). Auch außerhalb agiler Frameworks gilt: Wer übernimmt welche Verantwortung? Wer trifft welche Entscheidungen? Wer spricht für das Team nach außen?

Ein agiles Tool: Entwickle mit deinem Team ein Rollenboard in dem ihr diese Aspekte festhaltet und regelmäßig reflektiert.

4. Prinzipien und Werte als Kompass

Wenn nicht mehr jede Entscheidung von oben kommt, braucht das Team einen inneren Kompass. Dieser entsteht durch gemeinsame Werte und Prinzipien.

Diese Prinzipien können lauten:

„Wir entscheiden auf Basis von Kundenwert.“

„Wir sprechen Probleme offen an.“

„Wir liefern inkrementell und lernorientiert.“

Als Führungskraft begleitest du diesen Prozess: Du regst Dialoge über Werte an. Du achtest darauf, dass Prinzipien auch gelebt werden. Du bist Vorbild im Verhalten.

Systemtheoretisch betrachtet sind Werte die Selbstbeschreibungen eines Systems, die Orientierung ermöglichen. Sie machen das Verhalten vorhersehbarer und kohärenter.

5. Selbstreflexion stärken – Retrospektiven gestalten

Selbstorganisation lebt vom kontinuierlichen Lernen. Hier spielen Retrospektiven eine zentrale Rolle, das sind regelmäßige Meetings, in denen das Team sein eigenes Handeln reflektiert.

Retrospektiven sind mehr als Feedbackrunden, sie sind ein Ort der Selbstbeobachtung und Regulation, also Kernmechanismen der Selbstorganisation.

Wichtige Fragen sind:

Was lief gut? Was weniger? Welche Hypothesen haben wir dazu? Was lernen wir daraus? Was nehmen wir uns für den nächsten Sprint oder Zeitraum vor?

Als Führungskraft kannst du anfangs moderieren oder externe Unterstützung holen. Später sollte das Team eigene Formate entwickeln und diese selbstverantwortlich durchführen.

Fazit: Selbstorganisation ist kein Ziel, sondern ein Weg

Selbstorganisation ist ein Entwicklungsprozess, kein Zustand, den man einfach ausruft. Sie entsteht durch bewusste Führung, klare Kommunikation und gemeinsames Lernen.

Wenn du dein Team auf diesem Weg begleitest, wirst du erleben, wie Energie, Verantwortung und Kreativität wachsen. Nicht sofort, nicht ohne Rückschläge, aber nachhaltig.

Und irgendwann wirst du sehen: Das Chaos von früher? Das war nicht Selbstorganisation, das war fehlende Führung. Heute habt ihr beides: Klarheit und Freiheit. Struktur und Vertrauen. Und genau darin liegt die Kraft zukunftsfähiger Teams.

campus O. begleitet Teams und Führungskräfte auf dem Weg in die Selbstorganisation. Hier geht es zu unseren Trainings für Führungskräfte.

Lust auf mehr?

Wenn du tiefer in die Themen Agilität, Systemdenken und Führung eintauchen möchtest, empfehle ich:

„Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux**

“ 66 Gebote des systemischen Denken und Handelns in Management und Beratung“  von Torsten Groth **

“ The real book of Work – Organisationen in Not. Warum wir umdenken müssen.“ von Christina Grubendorfer

„Komplexithoden“ von Niels Pfläging**

„Scrum – The Art of Doing Twice the Work in Half the Time“ von Jeff Sutherland**