Die Rolle des agilen Coaches im Unternehmen scheint auf den ersten Blick klar zu sein, es ist jemand, der oder die Einzelpersonen, Teams und Unternehmen in ihrer agilen Entwicklung oder Transition unterstützt. Auf den ersten Blick… Doch, was genau beinhaltet die Rolle eigentlich und mit welchem Beratungsverständnis geht ein Agile Coach vor? Und zu Beginn gleich die scheinbar triviale Frage: Was ist Coaching? Geht ein Coach vom Wissen (ich weiß was gut und richtig ist) oder vom Nicht-Wissen (du weißt es bereits, und ich helfe Dir, deine eigenen Lösungen zu finden) aus? Welche Haltung passt wann zur Rolle eines Coaches für Agilität?
Das sind spannende Fragen, denn die Rolle des Agile Coaches ist vieldeutig gerade im Umgang mit Lösungen, Ideen und der Frage, was die eigentliche Expertise ist. Um es vorweg zu nehmen, in komplexen Situationen geht es um das anspruchsvolle sowohl als auch. Was bedeutet, je nach Kontext und Situation die Rolle zwischen den Positionen zu balancieren.
Einerseits: Agile Coach als Expert*in für Agilität
Man kann sagen, ein agile Coach weiß um Konzepte und zeigt anderen Wege auf. Beantwortet Fragen, gibt die Richtung der agilen Entwicklung vor, vermittelte Handlungen und die dazu passende Haltung. Hier ist die Expertise des agilen Coaches das Wissen um Methoden, Frameworks – vielleicht sogar ein Wissen um „Richtig“ und „Falsch“ in der Agilität. Agile Coaches stehen wie kaum eine andere Rolle als „Experten“ für Agilität und haben den Auftrag, die Organisation in ihrer agilen Transformation zu unterstützen und voran zu bringen. Damit sind Strukturveränderungen genauso gemeint, wie Haltungsänderungen von Teammitgliedern und Führungskräften. Hier sind agile Coaches mit einem ganzen Set an impliziten und expliziten Erwartungen an Ihr Wissen und die Art und Weise, wie sie es einbringen konfrontiert. Je nach Gegenüber kann dies innerhalb der Organisation kräftig variieren. Führungskräfte erwarten Entwicklung, nicht selten auch die Steigerung von Performance, Teammitglieder suchen Freiraum oder wollen enger geführt werden. Der Erwartungsdruck auf die eigene Rolle ist oft deutlich spürbar.
Andererseits: Agile Coach als systemische* Berater*in
Aus einer anderen Definition heraus handelt ein agiler Coach wie ein systemischer Berater. In Bezug auf die Unterstützung von Selbstorganisation heißt dies Zurückhaltung, wenn nicht gar Abstinenz in der Formulierung eigener Lösungen. Vielmehr geht es darum, Einzelpersonen und Teams in ihrem selbstorganisierten Lernen zu unterstützen. Das entspricht systemisch gesprochen der „Expertise des Nicht- Wissens“. Hier sehen wir eine große Nähe zur agilen Grundhaltung. Auch ein sogenanntes ‚agiles Mindset’ setzt auf die Kraft der Selbstorganisation, des Lernens, der Reflexionsfähigkeit und des Vertrauens in die Lösungen anderer.
Sonja Raddatz hat dies in ihren Texten zum systemischen Coaching so formuliert:
Systemische (agile ) Coaches brauchen…
… eine lethologische Begabung. Das ist nach Heinz v. Foerster „die Lehre des Nicht-Wissens“. Eine Haltung des Erkundens. Diese Haltung des Coaches fördert die Eigeninitiative, Selbstverantwortung zur eigenen Lösungen.
Vertrauen und Wertschätzung in die (Problemlöse-)Fähigkeiten der Coachees. Die Wertschätzung ihrer Lösungsideen und das Vertrauen, dass sie jeweils das Beste geben.
Eigene Ziele und Hypothesen loslassen – Jedes Ziel, jede Lösung, jedes Wissen, das wir als Coaches für den anderen haben und nicht auch wieder loslassen, schränkt die Möglichkeiten ein.
Allparteilichkeit ist die Fähigkeit, für alle Beteiligten gleichermaßen Partei zu ergreifen. Die jeweiligen Beiträge anzuerkennen und sich mit allen – auch widersprüchlichen – Seiten identifizieren zu können.
Dissoziieren – „Ich muss meine Gegenüber nicht retten!“ Ein wichtiger Satz. Im Coaching braucht es eine innere Distanz zum Beratungssystem. Nur dann können wir mehr sehen und wirklich eine Meta-Ebene einnehmen.
Agile Coaches erlangen Rollenbalance durch Haltungswechsel – wie beim Balancieren auch
Für interne aber auch für externe agile Coaches ergibt sich eine paradoxe Situation: Sowohl auf Basis agiler Prinzipien, als auch aus systemischer Perspektive handelt ein Coach aus einer Haltung des Nicht-Wissen heraus, stellt (systemisch-offene) Fragen und unterstützt dadurch den Lernprozess des Systems. Gleichzeitig gibt es aber einen mehr oder weniger expliziten Auftrag für die Organisation wirksam zu sein, Wissen zu vermitteln und Agilität voranzubringen – oder gar Mindsets zu ändern. In diesem Dilemma kann ein Coach nur wirksam werden, wenn konstant das ganze Rollenspektrum genutzt wird. So gesehen brauchen Agile Coaches eine ausgeprägte Rollenklarheit. Ein Meta-Konzept für die eigene Haltung und Handlungen, das beide Pole – systemische Beraterin und agile Expertin miteinander verbindet – gerade unter „Wirksamkeitsdruck“. Das ist alles andere als trivial:
Eine gute Orientierung kann hier ein Lernkonzept der australischen Wissenschaftlerin Lina Markoskaite geben. Sie unterscheidet aus einer lernpsychologischen Perspektive drei verschiedene Ordnungsmuster des Lernens, bzw. der Vermittlung oder Erzeugung von Erkenntnis.
Im 1st Order learning – steht tatsächlich die Vermittlung von Wissen und Methoden im Vordergrund. Dies kann sinnvoll sein, wenn es um konkrete Inhalte und Praktiken geht, die in einer spezifischen Situation das Wissen der Anderen vergrößern. Hierdurch entsteht ein tieferes Verstehen, das dann zu neuen selbstorganisierten Handlungen führt. Es kommt einem kurzen Impuls gleich.
Im 2nd Order learning – kreiert ein Coach eine Art Lernraum, in dem Befähigung durch Erfahrung im Fokus steht. Durch bestimmte Übungen, oder die Gestaltung spezifischer Reflexionen in Retrospektiven wird ein Erkenntnisraum für das Team oder eine Einzelperson bewusst erzeugt. Als Coach habe ich eine Hypothese darüber, welche neue Erkenntnis dem Team helfen kann. Ich verfüge also über Wissen, das ich nicht direkt weitergebe, sondern durch Erfahrungen bei meinem Gesprächspartner entstehen lasse. Hierfür braucht es natürlich die Offenheit für das eigene Nicht-Wissen als Coach. Einerseits sind Hypothesen lediglich Konstrukte, die sich als mehr oder weniger hilfreich, oder passend, erweisen können. In einem anderen Fall könnten die Schlussfolgerungen aus einer Erfahrung auf interessante Weise vom gedachten Ergebnis abweichen. Und damit sind wir im Übergang zum …
3rd Order learning – Hier wird eine bisher gemachte Erfahrung in einem kreativen Prozess neu „configuriert“. Es beinhaltet die Fähigkeit zur Dekonstruktion, das heißt Erfahrungen tiefer zu reflektieren, das bisher gelebte und gelernt zu hinterfragen, neu einzuordnen und auf eine andere Ebene zu bringen. Gerade in Bezug auf die Entwicklung oder Veränderung von Haltung ist dies eigentlich der einzige Weg. Hier ist ein agiler Coach gemeinsamen mit ihrem Coachee in einem Prozess der Co-Kreation, des Er-Findens neuer Lösungen. Im tiefsten Sinne arbeitet ein agiler Coach hier mit der „Expertise des Nicht-Wissens“.
Die „Three Orders of Learning“ stehen in einem fließenden Übergang zueinander. Es gibt Situation, da ist die ein oder andere Lernform und damit Haltung klar und eindeutig, häufig gibt es aber spannende Wechsel und Einbeziehung zwischen den Mustern.
Vom „Wissen“ ins „Nicht-Wissen“ zu wechseln, eine Frage zunächst mit einer Frage zu beantworten, das ist Selbstführungskunst auf hohem Niveau. Herauszufinden, wann was hilfreich ist und wann was erwartet wird, ist ein Aspekt konstanter Ziel– und Auftragsklärung im inneren Dialog mit sich selbst und transparent kommuniziert mit anderen.
- Wann ist Wissen gefragt und hilfreich?
- Wann braucht es den Wechsel zur Haltung des „Nicht-Wissens?
- Wollen mich alle anderen in der Rolle, die ich ihnen gerade anbiete?
- Wie und wann bin ich anschlussfähig mit meiner Haltung?
- Wann bin ich verführt, Lösungen zu produzieren?
- Wann wollen andere mich anders?
- Wie gehe ich mit dem Erwartungsdruck um?
In unserer Toolbox findet Ihr hilfreiche Reflexionen, für eine Retro mit sich selbst, der Planung von Coaching / Beratungssituationen und zur transparenten Rollenklärung.
In unserem Training „Coachingkompetenz für agile Coaches & agile Leaders“ könnt Ihr die Themen vertiefen und individuellen Fragen nachgehen.