„Am Ende muss doch einer entscheiden!“ – oder: „Einer muss doch sagen, wo es lang geht!“ Sicher habt Ihr diese kurzen Sätze – gerade im Kontext von Agilität und Selbstorganisation – schon oft gehört. Unabhängig, ob eine Führungskraft oder ein Teammitglied vor Euch steht, es klingt immer wie ein Naturgesetz.

Genau so wurde Führung in der Regel ja auch praktiziert und als Rolle in der Organisation verankert. Der unausgesprochene Auftrag der Organisation an ihre Führungskräfte lautet oftmals: „Sorge dafür, dass Dein Team Dir (uns) folgt“. Aber auch Mitarbeitende und Teammitglieder reagieren vergleichbar. „Entscheide Du!“ oder: “Sag Du uns, was wir tun sollen.“ oder: “Du bist doch der Chef.“

Möglicherweise spiegeln diese Aussagen unsere tief verankerten Glaubenssätze zur Führung in Organisationen wider: Die Idee, dass Meinungsvielfalt und Komplexität nur durch die Reduktion auf eine Person handhabbar wird, dass es doch diese eine dauerhafte Alpha-Rolle gibt; dass die Führung einer Gruppe bei EINER Person liegen muss.

Wenn Führung als das spezifische Handeln und Wirken einer Person gesehen wird, dann ergibt sich hieraus aber auch eine der zentralen Nebenwirkungen der klassischen Führung: Passivität – oder auch ein gelerntes Abwarten seitens der Teammitglieder.

Klassische Führung erzeugt Passivität

Ein kleines Gedankenexperiment hierzu: Gibt man einem Team eine Aufgabe und bestimmt eine Person als Führungskraft, was ist die erste Reaktion aller anderen Teammitglieder? … Abwarten…, was diese Führungskraft sagt, tut, vorschlägt. Das passiert auch in Teams, in denen durchaus engagierte und motivierte Personen arbeiten. Dieses erste Warten ist bald überwunden, wenn die führende Person die Teammitglieder schnell mit Fragen und Freiraum einbezieht und Verantwortung ganz bewusst überträgt. Aber wenn nicht? Wenn die Führungskraft Ideen einbringt oder gar Vorgaben macht? Wenn sie eigene Lösungen präsentiert und nur Teilaufgaben anweist. Und das wiederholt? Dann manifestiert sich das Abwarten als eine Form sinnvoller Passivität aus Sicht der Teammitglieder. Es dauert nicht lange, und implizit ist ein Rollenvertrag geschlossen. „Du führst, und wir folgen.“

In einem eher klassischen Verständnis von Führung ist dieses Ergebnis ein Erfolg – aber: In der agilen Transformation wird auch von Führungskräften Passivität als größtes Hindernis gesehen. Beklagt wird in der Regel eine zu große Zurückhaltung und mangelnde Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme seitens der Teammitglieder. Während anders herum Teammitglieder sehr genau beobachten, ob Führungskräfte den eigenen Versprechen nach Mitwirkung und Einbeziehung auch wirklich konsequent folgen.

Wir können jetzt sagen, dass alle ein neues Mindset benötigen – eine der lautesten Forderungen in der agilen Transformation. Damit personalisieren wir das wichtige Thema der Führung in Organisationen aber erneut. Wir können aber auch den Versuch unternehmen, Führung anders zu interpretieren: Weg von der Leistung einer Person hin zur Leistung des Teams – oder eines Systems.

Selbstorganisierte Teams praktizieren eine wechselnde Führung

Beobachtet man Teams, die selbstorganisiert, ohne formale Führung, fokussiert an klaren Problemstellungen arbeiten, erkennt man schnell, dass Führung in einem fließenden Wechsel aus Führen und Folgen (take the lead – follow the lead) durch das Team läuft – ja fast schwebt. Führung entsteht durch Gedanken, Impulse und Handlungen, die andere Teammitglieder wichtig finden und diesen Gedanken weiterentwickeln. Kommt ein neuer Aspekt von einer anderen Person hinzu, wird die Aufmerksamkeit des Teams verlagert, und ein anderes Teammitglied führt. Man könnte sagen, die Kommunikation der Teammitglieder untereinander bringt im eigentlichen Sinne Führung hervor. Es entsteht eine konstruktive, auf das Ergebnis ausgerichtete Gruppendynamik.

Schon lange ist bekannt, dass erfolgreiche Teams eine wechselnde Führung praktizieren. Aus diesem Grund sind Teams in der Lage, ein ‚Mehr‘ an Komplexität zu verarbeiten. Verschiedene, sogar widersprüchliche Aspekte können von Teams gleichzeitig gedacht und verarbeitet werden. Hiermit ist eine Person schnell am Limit des eigenen Denkvermögens.

 

Wechselnde Führung benötigt eine dialogorientierte Kommunikation

Doch ist die wechselnde Führung nicht immer auf Anhieb erfolgreich, viele Teams müssen erst lernen, sich in einer dialogorientierten und auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Kommunikation, aufeinander zu beziehen. Nicht selten enden Entscheidungsfindungen im Team in erschöpfenden Diskussionen, die kein inhaltliches Ergebnis hervorbringen. Dann werden eher Meinungen „gestapelt“, als wirklich miteinander gedacht. In Diskussionen lautet das unterschwellige Thema oftmals: Wer setzt sich durch – was eine Variante der Frage ist, wer führt.

Viele suchen in den flacher werdenden Hierarchien nach informeller Führung – oder nach Personen die Kraft persönlicher Autorität Leadership in Teams übernehmen. Doch der eigentliche Quantensprung in der Selbstorganisation ist der Moment, wenn alle Leadership übernehmen. Wenn man nicht mehr sagen kann, wer führt das Team, weil auch bei Unterschieden in Engagement und Zurückhaltung die Impulse aller wirksam werden.

… oder: Social Maturity

„Maturity“ beschreibt den Reifegrad der agilen Selbstorganisation eines Teams. Erweitern wir diesen Begriff doch explizit um den Aspekt der „Social Maturity“ eines Teams – dem Reifegrad einer auf Dialog, Einbeziehung und Leadership ausgerichteten Gruppendynamik und Kommunikation im Team. Vermutlich liegt hierin ein großes Potenzial für die Weiterentwicklung von Selbstorganisation in Teams und Organisationen..

Zum Schluss noch anregende Fragen zur persönlichen Reflexion:

  • Wie bringe ich mich im Team ein?
  • Was ist mein persönlicher Betrag?
  • Wie ist meine Balance aus Engagement und Zurückhaltung?
  • Wie gut beziehe ich mich in meiner Kommunikation auf andere und lasse mich führen?
  • Oder bringe ich gleich meinen nächsten Gedanken?
  • Oder bin ich zurückhaltend und beziehe wenig Stellung?
  • Spiele ich immer die gleiche Rolle? Oder wechsele ich die Rollen?
  • Wer führt in unserem Team?
  • Wechselt die Führung in unserem Team?
  • Welche Ergebnisse bringt unsere Kommunikation hervor?

Für die Gestaltung einer Retrospektive zum Thema „Social Maturity“ findet Ihr hier eine PDF zum download . Viel Freude und Erkenntnisgewinn damit. Weitere Anregungen, Tipps und Tools zu Führung und agiler Zusammenarbeit findet Ihr in unserer TOOLBOX.